Geschichte des Heidelberger Wingolfs

Der Heidelberger Wingolf ist die älteste nichtschlagende Verbindung in Heidelberg. Wie kam es zur Gründung dieser Studentenverbindung?

Vorgeschichte

Der damalige Dekan und Pfarrer der Peterskirche in Heidelberg, Johann Peter Sabel, richtete 1844 in seinem Pfarrhaus ein Bibelkränzchen für Theologiestudenten, Vikare und theologisch interessierte Laien ein, das sog. „Sabelsche Kränzchen“. Im Sommersemester 1850 wiederum gründete sich die das Duellwesen und den übermäßigen Alkoholkonsum der Corps ablehnende Progressburschenschaft Germania, die schon im gleichen Jahr wegen dem Verdacht auf Verbindungen zu den nach der Niederschlagung der Revolution von 1848/49 verbotenen alten Burschenschaften durch den Universitätssenat verboten wurde. Die Mitglieder der Verbindung trafen sich im Geheimen weiter zu Stammtischen, von denen einer stets im Gasthaus „Stern“ stattfand. Diesem schlossen sich bald zwei in Heidelberg studierende Mitglieder des 1843 gegründeten Berliner Wingolf, die Theologen Hecht und Braun, an und brachten die „Ex-Germanen“ mit dem Sabelschen Kränzchen zusammen, dem sie ebenfalls angehörten. Damit war der Grundstein für die Gründung des Heidelberger Wingolfs gelegt.

Der Heidelberger Wingolf von 1851 bis 1869

Am Abend des 17. Juni 1851 trafen sich 15 Mitglieder des Sabelschen Kränzchens und der verbotenen Progressburschenschaft Germania, darunter auch Hecht und Braun, im Gasthaus „Zum Rosenbusch“. Sie beschlossen eine Grundordnung aus fünf Sätzen, die sie alle unterzeichneten. Der erste Satz lautete: „Der Wingolf ist eine christliche Studentenverbindung“. Damit war der Heidelberger Wingolf als christliche Korporation konstituiert. Die Farben des Heidelberger Wingolfs waren damals Schwarz-Weiß-Gold. Nachdem der Heidelberger Wingolf den gesamten in Heidelberg mit dem Studium beginnenden Mannheimer Abiturientenjahrgang des Jahres 1852, den die Heidelberger Corps Suevia und Saxo-Borussia schon unter sich aufgeteilt hatten, für sich hatte gewinnen können, brach das Corps Suevia, unter dem Vorwand, die Wingolfsfarben Schwarz-Weiß-Gold würden den ihren („Schwarz-Gelb-Weiß von unten“) gleichen, einen Streit vom Zaun, in dessen Verlauf es sogar zu Handgreiflichkeiten und der Stürmung von Kneipen kam. Die Universität, die zunächst Pedelle bereitstellte, sah sich außer Stande, den Wingolf zu schützen, der es aufgrund seiner Prinzipien ablehnte, die Streitigkeit durch das Duell zu klären; man schlug der jungen Verbindung vor, die Farben abzulegen. Als der Wingolf dies ablehnte, wurde er kurzerhand verboten.Die Wingolfiten gründeten daraufhin einen „Christlichen Studentenverein“ ohne Namen oder Farben. Es wurden im Geheimen allerdings weiterhin Kneipen geschlagen und schwarz-weiß-goldene „Couleurgegenstände“ getauscht. Bei einer solchen Kneipe im Jahr 1855 wurde die Gesellschaft in vollen Farben durch Universitätsbeamte aufgefunden, wofür alle Teilnehmer mit zwei Tagen Karzer bestraft wurden. Nach einigen Unruhen wurden 1856 auch die Corps verboten, im Wintersemester 1856/57 mußten alle Verbindungen erneut ihre Satzungen einreichen und die Genehmigung beantragen, Farben zu tragen. Der christliche Studentenverein beantragte daraufhin die Zulassung als „Arminia“ mit den Farben Blau-Weiß-Gold, dies wurde unter der Auflage genehmigt, daß die Arminia nicht dem Gesamtwingolf, dem Vorläufer des Wingolfsbundes, beitreten dürfe. Die Arminia überdauerte bis zum 31. Oktober 1868: Interne Richtungsstreitigkeiten und der Mangel an Nachwuchs aufgrund des deutsch-deutschen Krieges 1866 und des dadurch ausbleibenden Zuzugs von Studenten aus dem vornehmlich protestantischen Norden Deutschlands führten dazu, dass man die Vertagung beschloss.

Der Wingolf von 1881 bis 1914

Der Heidelberger Wingolf wurde am 11. November 1882, zunächst unter dem Namen „Studentischer Verein Fraternitas“, durch Burschen aus dem Wingolfsbund und die Alten Herren der Arminia wiedergegründet. Als sich zeigte, daß die Universität gegen den Namen Wingolf nichts mehr einzuwenden hatte, nahm man am 13. November 1882 den Namen „Wingolf“ an, behielt aber die Farben der Arminia, Blau-Weiß-Gold bei. Im Jahr 1889 konnte sich der Wingolf einen lange gehegten Traum erfüllen – in der Werrgasse 4 kaufte die Verbindung ein Grundstück und baute ein eigenes Haus, das am 26. November 1889 eingeweiht wurde, und in dem der Heidelberger Wingolf noch heute beheimatet ist. Im selben Jahr übernahm der Heidelberger Wingolf zum ersten Mal den Vorsitz im Wingolfsbund. In der Zeit bis 1912 versuchte die Altherrenschaft, die Erweiterung des Wingolfshauses beim Bauamt der Stadt Heidelberg durchzusetzen – dieses lehnte jedoch Antrag um Antrag ab. Einmal passte der Baustil nicht, ein andermal war die zu erwartende Lärmbelästigung zu groß. Letztendlich wurden lediglich die obere Terrasse und ein kleiner Anbau zum Hang hin genehmigt. Die Aktivitas verbrachte diese Zeit recht sorglos, man lebte nach der Devise „Im Winter studieren, im Sommer Student sein.“

Der Wingolf im kriegerischen Europa

Diese Zeit der Ausgelassenheit endete schlagartig mit dem Beginn des 1. Weltkrieges am 1. August 1914. Die Wingolfiten unterschieden sich in ihrem Verhalten und ihrem Patriotismus größtenteils nicht von der übrigen Bevölkerung, auch hier rannten junge und ältere Männer mit „Hurra!“-Gebrüll in den Krieg, den sie nur zu bald in seiner ganzen Grausamkeit kennenlernen sollten. Der Heidelberger Wingolf verlor in den Jahren 1914 bis 1918 dreißig Mitglieder, fünfzehn Aktive und fünfzehn Alte Herren. Zu ihrem Andenken wurde am Haus ein Gedenkstein angebracht.

Mit den Studenten der beginnenden 20er Jahre lebte der Verbindungsbetrieb wieder auf. Neue Lebensformen prägten den Wingolf. Die Natur spielte eine stärkere Rolle, so wurden viele Ausflüge unternommen. Auch der verbindungsinterne Sport wurde intensiviert. Dies umfasste Schwimmen, Leichtathletik und das Fechten zu Übungszwecken. Das 75. Stiftungsfest 1926 wurde aufwendig begangen. Ein großer Festzug von fünf Reitern, über 30 Aktiven und 330 Wingolfiten aus dem Bund zog durch die Altstadt. Über die ganzen 1920er Jahre schon und intensiviert infolge der Weltwirtschaftskrise 1929 wurden vermehrt politische und gesellschaftliche Streitpunkte in den Wingolf hineingetragen. Allerdings verblieb der Wingolf als solcher auf dem Standpunkt, politisch keine Position zu beziehen und das breite ideologische Spektrum in seinen Reihen, welches von einem religiös motivierten Sozialismus (zu dessen Wortführern im Wingolf der Alte Herr Paul Tillich, einer der Wegbereiter der existentialistischen Theologie, gehörte) bis zu nationalkonservativen Positionen reichte, auszuhalten. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 begannen auch die Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB), der die Alleinvertretung der Studenten für sich beanspruchte. Zunächst wurde vom Wingolf die Einführung des Fechtens gefordert, welches der Wingolf aber weiterhin ablehnte. Weiterhin mussten alle Verbindungen das Führerprinzip einführen, wodurch die basisdemokratischen Entscheidungsgremien („Convente“) abgeschafft werden mussten. Zudem wurde die Einführung des Arierparagraphen und der Ausschluss jüdischstämmiger Mitglieder gefordert. Die Aktivitas (also der aktuell studierende Teil der Verbindung) entschied sich für die Annahme der Auflagen, was den Austritt von über der Hälfte der Altherrenschaft aus Protest bzw. Solidarität zu den ausgeschlossenen Brüdern nach sich zog. Als zusätzlich weiterhin auf die Einführung des „akademischen Fechtens“, also von Duell und Mensur, gedrungen wurde, sah sich der Heidelberger Wingolf am 5. November 1935 gezwungen, die aktive Verbindung aufzulösen.  Der Gedenkstein für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs fand in der Heidelberger Heiliggeistkirche seinen neuen Platz, wo er bis heute zu finden ist. In den folgenden Jahren kam es weiterhin zu Zusammenkünften von Aktiven und Alten Herren, welche ab Beginn des Zweiten Weltkriegs immer seltener wurden.

Der Heidelberger Wingolf seit 1945

1945 hatte der 2. Weltkrieg auch viele Heidelberger Wingolfiten das Leben gekostet – vierzig Bundesbrüder waren gefallen. Die Wiedergründung der Verbindung erfolgte am 18. Juni 1948, ihr Verbindungshaus in der Werrgasse 4 erhielt sie allerdings erst 1957 wieder zurück. Nach einem kurzen Richtungsstreit einigte man sich in der Aktivitas auf den alten Wahlspruch „ΔI ENOΣ ΠANTA!“ – „Durch einen – Jesus Christus – alles!“. Drei Jahre nach der Wiedergründung feierte der Heidelberger Wingolf sein 100. Stiftungsfest – auf dem Schloß wehte dazu eine riesige blau-weiß-goldene Fahne. Die Aktivitas war bis Ende der sechziger Jahre recht stark, im Jahr 1955 übernahm der Heidelberger Wingolf wieder einmal den Vorsitz im Wingolfsbund. Mit den Studentenunruhen endete diese Zeit recht abrupt; die Aktivmeldungszahlen sanken fast auf Null, und der Wingolf führte bis in die siebziger Jahre nur ein Schattendasein. Erst Anfang der achtziger Jahre sollte sich dies ändern. Die damals noch fünf Buden auf dem Haus waren ständig belegt und es kam etwas Glück bei den Aktivmeldungen hinzu, so daß es während der gesamten achtziger Jahre eine große Aktivitas gab. Durch den Zuzug von Bundesbrüdern aus Göttingen, wo man damals Frauen aufnahm, kam es im Heidelberger Wingolf zu einer Diskussion um eine ähnliche Praxis – es wurde zwar Abstand genommen von der Aufnahme weiblicher Mitglieder in den Heidelberger Wingolf,  jedoch werden seitdem Frauen zu allen Veranstaltungen eingeladen, die nicht auf Verbindungsmitglieder beschränkt sind (v. a. Convente). Anfang der neunziger Jahre wurden Pläne für einen Ausbau des Erdgeschosses erstellt.

Die Renovierungsarbeiten, die bereits im Herbst 1994 begonnen hatten, wurden 1997 mit dem Neubau der Außentreppe abgeschlossen. Im selben Jahr übernahm der Heidelberger Wingolf wieder den Vorsitz im Wingolfsbund, den er für zwei Jahre innehatte. Am Abschluß dieser Zeit stand das 67. Wartburgfest des Wingolfsbundes, welches der Heidelberger Wingolf in gebührendem Rahmen im Mai 1999 ausrichtete.